Text zur Ausstellung "Ein Kinderspiel", Marktschlösschen Halle- 2001 - MALEREI: EINE SINNFRAGE

Bilder aus dem Jahr
Wenn man das erste Mal einen Pinsel in die Hand nimmt, mit dem Vorsatz ein Bild zu machen, ist die Triebkraft oft der Mangel an Möglichkeiten, dem eigenen Sein eine Dimension zuzuweisen.
Unter Umständen genügt schon emotionaler Überschuss als Auslöser. Spätestens wenn sich die Oma aufrafft, das Ergebnis zu bewerten, hat man die Sinnfrage.
Bei weiterem Nachdenken kommt man zum Bild eines ersten Malers, der in eine Felswand ritzend, gesellschaftliche Prozesse beeinflusst. Eher Seher als Künstler befördert er mit seinem Tun das Jagdglück und ist also zum Lebenserhalt nötig.
Bis zum Mittelalter ist die Kunst in ähnlicher Form existent. Über Bild, Wort und Architektur ist sie verantwortlich für die Direktverbindung zwischen Mensch und Gott oder Unendlichkeit. Künstlerische Form ist inhaltsgebunden und schön in der Einheit von Sehen und Begreifen. In der Renaissance stürzt das Weltbild.
Die Wissenschaft stellt sich an vorderste Front gesellschaftlicher Entwicklung und die Kunst wird vorgabe- und richtungsfrei. Der Künstler wäre lieber Architekt, Mathematiker, Biologe und benennt die Fähigkeit Bilder herzustellen als letzte seiner Tugenden (Leonardo da Vinci).
Es dauert nur wenige Jahrzehnte und wir finden den Künstler damit beschäftigt, das Flirren des Lichtes auf der Haut wiederzugeben, oder wir sehen ihn, wie er analog der Filmkamera versucht, verschiedene Seiten eines Gegenstandes auf die Malfläche zu bekommen.
Die Kommunikationsutopie der abstrakten Malerei nach 1945 oder die Rückkopplung von Kunst und Gesellschaft in den 60er Jahren können wir heute als retardierende Elemente einer ansonsten geradlinigen Entwicklung begreifen. Heutige Kunst folgt wissenschaftlichen Prinzipien und hat Erkenntnis und Innovation zum Ziel.
Die Zeit der Künstler als «Seher» ist vorbei. Das Verhältnis des Menschen zu Gott oder Unendlichkeit - da muss man sich nichts vormache - streift die Kunst nur noch im meditativen Bereich.

ERZÄHLUNG
Bleibt der Kunst nur noch die Abhandlung von Wahrnehmungsphänomenen aus der wissenschaftlichen Resteverwertung?
Wenn sich Kunst nicht mehr um Gott und die Entstehungszusammenhänge der Welt kümmern muss, bleibt ihr die Auskunftsfunktion über den Menschen als gesellschaftsfähiges Wesen; über dessen Beziehungen zur Umgebung und über die Art seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Ihre Chance ist dabei die individuelle Sicht. Durch Persönlichkeit gefiltert kommt es zu verschiedenen Ansichten von Realität.
Fünf Wissenschaftler um einen Gegenstand einigen sich auf eine Beschreibung in Form einer Definition, nachprüfbar und reproduzierbar bis ins Detail. Fünf Künstler kommen zu fünf verschiedenen Lösungen.
Konventionen und Vereinbarungen ergeben keine Sinn.
Abstraktion, Realismus, Figuration bestehen gleichberechtigt nebeneinander. Das Leben in der heutigen Bilder-Welt bringt es mit sich, dass unser Gehirn Bild-Muster anlegt und verwaltet. Diese werden verwendet, um (Bild-) Inhalte schneller zu erfassen.
So werden angedeutete Formen zu einem Ganzen vervollständigt und Detailinformationen vernachlässigt. Diesen Umstand kann die Bilderzählung nutzen, indem sie Dinge außerhalb ihres logischen Zusammenhangs ordnet und die Mustererkennung außer Kraft setzt.
Das Bild entsteht (abhängig von der emotionalen Struktur der Erfahrungswelt und den visuellen Möglichkeiten des Betrachters) virtuell zwischen Betrachter und Bildfläche. Ein Künstler fungiert als Filter.
Der Fotograf zum Beispiel hält Wesentliches fest, indem er mit der Kamera abbildet und das Ergebnis in einer völlig anderen Umgebung präsentiert. Da hier Wiedererkennbares Realität zu belegen scheint, wird jede «ungewöhnliche» Darstellung in der Fotografie zur Faszination angesichts der Realität.

Wenn ein Maler nach wie vor mit der weißen Leinwand beginnt, stellt sich die Frage, ob er dabei erfindet, oder ebenfalls Material von realer Herkunft verarbeitet.
Abstrakte Malerei verstand den Schaffensprozess ja als Parallele zum Werden in der Natur.
Jedoch ist Output nicht ohne Input möglich. Selbst wenn wir Einstein oder der abstrakten Malerei Erkenntnisse verdanken, die wir vorher nicht hatten, so waren die zugrundeliegenden Sachverhalte auch vor ihrer Entdeckung anwesend. «Neues» entsteht durch Verschiebung, Kopplung und Variation von Gesehenem oder Verstandenem.
Mit der Malfläche als Experimentierfeld wird das Bild zum Nebenprodukt innerhalb eines Erkenntnisprozesses und verliert nach gefundenem Ergebnis seine Bedeutung für den Maler. Das bildnerische Verfahren bleibt jedoch in seiner ästhetischen Dimension sichtbar, so dass der Wertverlust den Betrachter nicht trifft.
Malerlogik: An welcher Stelle einer Linienführung beginnt figürliches Denken? Wie lange bleibt ein Kreis er selbst? Wann wird eine dunkle Fläche zur Figur? Wieviel blauer Fleck will bereits Wolke sein? Wie kann man mit Vorstellungsklischees arbeiten; wie die Vervollständigungsfähigkeit unserer Erfahrung ausnutzen? Kann man auch in der Malerei (z.B. durch Einbindung von realen Fragmente) Tatsächlichkeit vortäuschen?

SPASS
Der Logik entgegengesetzt existiert das Chaos, die Unordnung oder der Zufall.
Wissen vereint sich mit dem Zufall zur Kreativität und bringt uns außerhalb des bildnerischen Erwartungsspektrums. Die Erfahrung befähigt uns zwar, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, begrenzt aber auch unsere Handlungsfähigkeit. In ihrer Funktion als Schutzschild verweist sie auf vergangene Fehler und bestimmt einen Weg mit fester Richtung.
Nur der Zufall und bewusst alogische Handlungen besitzen die Fähigkeit zu kreativer Neuordnung außerhalb der Zone von Routinen. Der Zufall hat ein Paradoxon in sich: er benötigt ein Ziel.
Eine verwertbare Arbeit kann nur entstehen, wenn zielgerichtet Handlungen angegangen und hierzu Versuche eingeplant werden. Das «Nebeneinanderlegen», das «Übereinanderstapeln» von Arbeiten, das Hinzufügen von Fragmenten und Schnipseln, das «Auf den Kopf stellen» und das Vernichten ermöglichen einen offenen Prozess, der zu Misslungenem ebenso führt wie zu 1000 mal Gesehenem, der aber auch die Chance zu Neuen beinhaltet. Durch falsche Erwartungen oder Fehler im Handlungsablauf kann es geschehen, dass ein unerwartetes Resultat Zustandekommen. Ohne Wertung, verwirft man das Ergebnis jedoch oder verdünnt die eigene Kreativität ins Beliebige. Das «Neue» befindet sich dort, wo noch niemand war. Verschiedenes ist bedacht: Visuelle Möglichkeiten, Auswahl durch Individualität, Sichtbarmachen von längst Vorhandenem durch Neuordnung, sowie die Notwendigkeit über die Grenze der Erfahrung hinwegzukommen. Focus meint Individualität und Entscheidung.
Interessant ist der Körper: Sehe ich mich, wenn ich in den Spiegel schaue, oder sehe ich eine Hülle? Ist das «Ich» nichts als eine Software, die auf einer Art Biocomputer läuft und welche Verknüpfungen vom Wort «Ich» gibt es zum Wort «Persönlichkeit»? Ist davon etwas sichtbar zu machen? Kaum sind Pünktchen, Pünktchen, Komma und Strich zusammengefügt, erkennen wir ein Gesicht. Mit welcher Darstellung ist Persönlichkeit zu fixieren, wo wird sie vom Betrachter am ehesten vermutet?
Im Puppenkörper, im realistisch gemalten Körper, im Balg, im erfundene Malstück, in der Kinderzeichnung oder der Fratze? Bestehen die verschiedenen Darstellungsformen von Körper nebeneinander? Sind sie durch eine Erzählstruktur zu binden? Kann man in einem Reigen aus Puppen, Realismen, Kinderzeichnungen und Kunst-Stückchen eine gemeinsame Handlung erkennen? Wird die plastisch durchgeformte Hülle bevorzugt? Fragen als Anlass für eine Bildergruppe.
EASY FUN
Mitteleuropäer sind potenziell gefangen im Netz kultureller Aufgehobenheit und künstlerischer Vergangenheit. Man kann von der Malerei deutscher Romantik viel über den herrschenden Geist im Lande erfahren.
Aus der Symbolträchtigkeit der Darstellungen liest man direkt im Wertesystem der Epoche. Während in den deutschen Schilderungen die Schlussfolgerungen auf die Zeit als Gegenentwurf möglich sind (Kunst wollte bestehende gesellschaftliche Zustände ja aufheben), finden wir woanders eine direktere Verbindung gesellschaftlicher und künstlerischer Produktion.
Andy Warhol thematisierte Konsum und machte Konsum. Er tat dies in einer Überfluss-Phase kapitalistischer Entwicklung, die keine Beschränkungen zu kennen schien. Jeff Koons lässt Bilder malen: computergenerierten Kauderwelsch aus Alltagsbanalitäten, die sich im absoluten Nichts vereinen und so perfekt gemacht sind, wie wir es heute erwarten.
Da gibt es keine Frage nach Erfahrung, niemand will etwas von Botschaft wissen, kein Ausweg führt vorbei am schönen Schein. Dass sie nicht Schmuckstücke sind, sondern Kunst - verdanken sie ihrer Analogie zur Zeit: utopielose Fortschrittsgläubigkeit, die durch Überinformation zur Dummheit generiert. Bei Koons heißt das: «Easy Fun».

In den leeren Körpern mit ihren Fähigkeiten zu mancherlei Symbiosen weht ein leichter Wind des Nichts: Überall leuchten der Lächerlichkeit preisgegebene Hoffnungszeichen die auf Vergangenes verweisen und das beißende Stück «Trotzdem» nicht aufgeben können. Hier in Europa, hier bei mir.