Das Tal der Könige

Bilder aus dem Jahr
Der Bach hatte zehn Häuser hinter sich, als er an dem Schlafzimmerfenster vorbeikam, hinter dem alles begann.

Für seine Geburt standen wegen der damals erheblichen Winterkälte und der Verklemmungen in Flußanfangsdörfern nur die Sternbilder Fische, Widder, Stier und Zwilling zur Auswahl. Zunächst verbrachte er ein paar glückliche Jahre in dem schieferverkleideten schwarzblauen Haus mit Klo im Ziegenstall, wo im Winter die Haare an der Bettdecke anfroren: Die fürsorgliche Muhme Anna schabte ihm Äpfel, die Ziege sorgte für Milch und Butter. Der Vater kämpfte mit dem Großvater um die Installation eines Klos anstatt des alten Brettergestells. Seine schöne Mutter verkaufte unterdessen im Dorfkonsum Fisch aus großen hölzernen Fässern und übte abends Heimatlieder. Vom Vater bleibt die vage Erinnerung an jemanden, der selten und immer unerwartet in der Tür stand. Er studierte!

Später kam die Zeit in sein Leben: Sie erschien als dunkelbraunes Gefährt und nannte sich Schulbus. Seine Vertrauten waren Milchauto, Brotauto und der Rümpler (ein Taxi- und Fuhrunternehmen, das den 2. Weltkrieg überlebt hatte). Man hatte nun vom Wecken bis zur Vorbeifahrt des Milchautos Zeit sich zu waschen und anzuziehen, das Frühstück musste bis zum Brotauto geschafft sein und wenn der Rümpler kam, galt es, sich zum Schulbus aufmachen. Den Ernst des Lebens, den man ihm bereits mit der Übergabe einer Tüte voll Süßigkeiten versprochen hatte, lernte er dann zur Faschingszeit kennen. Die Mutter stand auf Rotkäppchen! Als er verkleidet und bemalt aus dem Bus ausstieg, befand er sich in einer Schar brüllender und kreischender Kinder, die sich nicht satt sehen konnten an den roten Wangen, den kleinen Zöpfchen und dem kunstvoll gewundenen Rock. Seine Mutter hatte ganze Arbeit geleistet: Fasching war am folgenden Tag. Als der Vater „Inschenjöhr“ geworden war und viel mit Kraftwerken und Perspektive zu tun hatte, holte er die Mutter und den Jungen zu sich. In einem unbekannten Ort zogen sie in ein Zimmer mit Tisch, drei Stühlen und einem gemeinsamen Bett. Das Waschbecken befand sich hinter einem Vorhang und durch ein riesiges Fenster blickte man auf Sand, Autos und unfertige Häuser.
Als thüringischer Knabe trug er Strapse mit braunen langen Strümpfen unter einer kurzen Hose in die sorbische Kleinstadt. Doch da hier lange Hosen längst den Sieg davongetragen hatten, war sein Erscheinen stets von der Art Gelächter begleitet, das er vom Fasching kannte und dem man nur durch Flucht entgehen konnte. Die Eltern kauften keine langen Hosen.

Dabei war der Strumpfritus das Einzige, was aus dem verträumten Bauerndorf in die neue Welt übernommen wurde. Alles andere hatte man ersetzt: Es gab neues Brot, andere Butter, Schlagsahne, man musste zum Friseur und für den Vater Zigaretten holen (Casino); Milch bekam man in der HO und an den Abenden diskutierten die Eltern um bedeutungsvolle Worte, die er nie zuvor gehört hatte.

Es war dann dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Mutter zu verdanken, dass sie aus dem auf Sand gebauten Nest in die Stadt zogen, die einen Fluss im Namen trug. Ein weiterer Umzug folgte.

Doch erst als ihm längst Haare unter den Achseln wuchsen und die von Träumen durchschwitzten Nächte den Tagesrhythmus diktierten, als das Abitur geschafft war und die Beziehung der Eltern zerbrochen, kam in der Ferne Land in Sicht. Er bemerkte es, als er in einem winzigen Zimmer erwachte, in Halle an der Saale, am Stadtgottesacker. Er war Student und Untermieter bei einer ehemaligen Unternehmerin, die ihre Nachbarn für Gefälligkeiten mit Meißner Porzellan bezahlte. Ein Gemisch aus Verzweiflung, Sehnsucht und Langeweile lastete auf der Situation und als er Bücher zu lesen begann, stürzte wie ein Schock eine für unmöglich gehaltene Welt in sein kleines Leben. Um sich ihrer Übermacht erwehren zu können, begann er zaghaft Papier mit Romanfragmenten, Zeichnungen und unverständlichen Gedichten zu bekritzeln.

So vergingen zwei phantastische Jahre, in denen auf unkonzentrierte Tage mit Niels Bohr, Mendelejew, Wasserstoff und Cyanurchlorid endlose und unvergessliche Nächte mit Dostojewski, Sartre, Kafka, Böll, und Dürrenmatt folgten. Dass dabei wirkliche Kreativität nicht zustande kam, muss an den Katzen gelegen haben. Der ständig gefüllte Fressnapf, der dem Katzenvieh der Wirtin gehörte, war zu viel Realität für sein sensibles Vorhaben.

Denn während er zu Monatsbeginn Haferflocken kaufte, um den nächsten Geldtag zu erleben, hatte der Kater spätestens ab Monatsmitte die bessere Kost.

Aber auch anderes kam dazwischen. Es genügte, dass eine Schöne mit Lippenstift die Drohung: „Dich krieg ich sowieso“ an seinen Spiegel schrieb, dass er kapitulierte und sich in weltliches Tun verstrickte. Der Teufel muss ihn geritten haben, als er aus seinem kleinen Zimmer mit den großen Welten in die riesige Wohnung ihrer Eltern zog, die eng war und in der die Decke so niedrig hing. Es waren langwierige und schmerzhafte Befreiungsversuche nötig, bis er in der Lage war, den Fehler zu wiederholen. Mit dem dritten Versuch hatte er dann die Frau, bei der er den Mut fand, den Beruf aufzugeben, um zu malen. Letztendlich aber hatten die Katzen seinen Realitätssinn geschärft und seine Kinder stellten sein bisher abgehobenes Ich in einen Zusammenhang mit dem Ganzen. Jedoch die Welt ist rund. Wenn man mit Mühe auf einen kleinen Stein geklettert ist, verbleibt einem nur wenig Zeit, sich über die neue Aussicht zu freuen, denn man erkennt neben der Lächerlichkeit des zurückgelegten Weges auch die größeren Brocken und sieht in weiter Ferne die Berge.

Also sollte Weite sein und Bewegung und nur der Berg am Horizont kam als Ziel in Frage. Da er die Ursache für die Enge nicht ahnte, richtete er die Wut zunächst gegen sich selbst. Dann versuchte er das Problem zu lösen, indem er sich von allem trennte, was er eigentlich brauchte. Als das nicht reichte, kam der Versuch mit dem Ortswechsel: Leipzig-Dresden Berlin. Änderte sich etwas?

Feige seit den braunen Strümpfen scheute er den letzten Schritt. Stattdessen machte er die Leinwand zur Welt und die Kindheit zum Betrachtungsstandort.

Nach der Wende verstand er, dass bei ihm der Gefühlsstau bleiben wird, wie die Malerei. Man läuft Utopien nicht hinterher, sie zerfallen zu Staub, wenn sie in greifbare Nähe geraten. Utopien und Apokalypsen entstehen in den Köpfen und realisieren sich vielleicht in Bildern, wenn man Ideale auch angesichts der Realität behalten kann.

Aber wer weiß das schon richtig.

Es war einmal im Tal der Könige....