In Himmel und Hölle die Gegenwart … Werner Liebmanns Kreuzspiegel

Bilder aus dem Jahr
Liebmanns jüngste, großformatige Bilder entstanden äußerst langsam. Es war ein schwieriger Prozess mit ungezählten Verwerfungen, bis alles Schütten, Ziehen, Zerren und Abkratzen der Farben den Bildern Form und Struktur gab. Es ist ein anstrengendes Unterfangen, das alle weltlichen Dinge entstofflicht, auflöst und mit dem Schwung eines Pinsels zerschneidet, nur um sie vollends zu Farbe werden zu lassen. Durch diese jedoch lässt er sie erneut Gegenwart erlangen; wobei das bildnerische Farbdasein einmal grätzig wie Säure, dann aber wieder sanft wie Flachs erscheinen kann. Die Bilder entstehen direkt auf der leeren Leinwand ohne Vorarbeiten oder stützende Vorzeichnungen. Langsam finden sich die Bildelemente zusammen. Kontrastreich halten sich die Farben oder treiben auseinander, bilden anfangs ohne Gerüst aus bloßen Flecken Gravitationspunkte, die mit dem nächsten Pinselzug zu hart gefurchten Kraftlinien ausgestrichen werden, welche wiederum mal weitläufig, mal engmaschige Gefüge hervorbringen.

Nach und nach konkretisieren sich die Bilder beim Malen, der Farbvortrag klärt sich, die Farben finden ihre Orte, Dinge und Figuren ihre Form. Aus realen Figuren werden Bildfiguren, aus Landschaften werden farbstrotzende ‹Bildschaften›. Bei allem konstruktiven Kalkül und allem motivischen Gedränge gelingt es Liebmann darin stets, eine außergewöhnlich großzügige Offenheit in seinen Bildern zu behalten.
Im Zuge der Arbeit an der Ausstellung «Kreuzspiegel» hat er - wie bei einem Scheideweg - die Grenzen der menschlichen Existenz mit einem Bildpaar abgesteckt: Einem lichten «Paradies» und einer düsteren Hölle («Kampf»). Seine neuesten Bilder beziehen ihre Stärke eben aus der offenen Gegenwart inmitten dieser extremen Grenzen. Denn etwas in seinen Grenzen «zu Ende zu denken»

(FN 4: Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 303), heißt, jenes Etwas auf seine eigenen Möglichkeiten hin zu denken. Diese empfangen ihre Bestimmung nicht von diesen beiden Grenzen, sondern bilden sich erst aus der Gegensätzlichkeit beider. Zwischen Hölle und Himmel, mitten im Geschehen, inmitten der noch geborgenen Möglichkeiten des Lebens halten sich Liebmanns Bilder so, wie im Auge eines Sturmes für Augenblicke die Naturgewalten sich sammeln und kurz innehalten.

Eigentümlich ist ihnen darüber hinaus, dass sie als Möglichkeiten zwischen Geswesenem und Kommendem, zwischen Erlösung und Verdammnis, Ekstase und Verzweiflung schweben. «Badende», «Das Gericht», «Die Vögel» oder die beiden Reiterbilder scheinen allesamt sowohl wie ein Alptraum mit endzeitlicher Leere, Tumult und harschem Aufruhr, als auch wie traumhaft festliche Pastoralen in Fülle und Überschwang. Liebmann hat sich dazu ein enormes Repertoire mit einer weiten Spanne von Figürlichem und Narrativem, Malerei und Zeichnung, Ornamentalem wie Konstruktivem, Humor und Groteske vermalt.

Es herrscht arge Zerrissenheit, in die sich die Malerei drängt und das Wirkliche bildlich dermaßen ins Irreale schiebt, dass es ausnahmslos im Phantastischen aufgeht. Selbst die Perspektiven drehen hierin vollkommen durch. Es gibt nicht länger nur einen Hinblick, sondern es sind ungezählte. Alles hängt mit allem zusammen und die monotone Alltäglichkeit bröckelt ob der Gleichzeitigkeit aller nur erdenklichen Erscheinungen.
Ein ums andere Mal gruppiert, pfercht, verkeilt, legt und stellt, zerreibt Liebmann seine Bildfiguren und setzt sie den bildnerischen Kräften aus. In der Fläche drücken schwere Lasten auf sie, bisweilen zergehen sie im eigenen Ruhen oder aber sie werden von aufbegehrenden Farbwogen durchzogen. Dabei gliedert er die Bilder mit diskreten wie indiskreten Geometrie, mit aufgestöberten Lineaturen, fluchtend hingezeichneten Raumgrundrissen, schräg gelegten Tälern, aufklaffenden Lichtungen oder tiefhorizontigen Ebenen, zu welchen sich die in Farbe geworfenen Körper verhalten müssen.
Figuren, Gesichte und Erscheinungen stürzen in diesen Verhaltungen durch dunstiges Sfumato, pressen sich durch harsches Helldunkel, das zart spröde Inkarnat rutscht ihnen von den Leibern und führt ein beklemmendes, krudes Eigenleben in der geschwürigen oder monströs aufgepfropften Art von körperlosen Organen wie auf «Am Meer», «Ballons» oder auf «Sommertag». Dennoch herrscht in diesem Zu- und Gegeneinander eine eigentümliche Ordnung.

Selbst wenn das Bildganze verdriftet, auseinander sprengt oder strudelnd implodiert, jedes Ding hat einen nur ihm bestimmten Platz, steht in Beziehung zu allem Umgebenden und besitzt bei aller Turbulenz ein haltgebendes Oben oder Unten sowie ein Neben-, Vor- oder Hintersich; nimmt man nur ein Bild wie «Das Sofa».
Die Bildordnung formiert sich derart aus den gegenstrebigen Ab- und hingerissenen Zulenkungen der Körperenergien und Richtkräfte in den Bildstätten. Es sind rauschhaft wabernde Phantasmen und aufgefledderte Phantome, die Liebmanns Bilder schweifend bevölkern und zu verknäulten Haufen, anbrandenden, ent- oder überindividualisierten Prozessionen, Motivknollen und ornamental verrankten Menschengirlanden wie auf Altdorfers apokalyptischer «Alexanderschlacht» machen. Mehr als einen Klumpen Farbe braucht es nicht, um solch’ bestürzende Bildexistenzen aufzuwerfen.

Die Malerei selbst, die Malweise ist in diesem Gegenwartstheater der größtmögliche Protagonist und Handlungsträger. Liebmann lässt eine symbolistisch abwegige Parallelwelt entstehen, doch tut er dies mit dem härtesten Realismus, dem Realismus der freien und gegenstandungebundenen Farbe. Anschaulichkeit oder gar geschwätzige Mitteilsamkeit werden rundweg ins Publikum verbannt, zerschellen an farbschroffen Klippen, werden zermalmt, entriegelt oder schlicht defiguriert und zerstrahlt vom aufgleißenden Farblicht, das keiner physikalischen Gesetzmäßigkeit gehorcht außer der eigenen und die Bilder zu rein sinnlichen Lichterscheinungen macht.
Es liegt nun darin eine kindliche Ungezwungenheit, ungeheuer vermögend, vorstellungsreich und wagemutig, offen auf «Der Mantel» vorgetragen, die jedes Bild zwar wie das erste angeht, aber die Vorgeschichten dazu nicht vergisst. Denn das Vermögen von Liebmanns Malerei besteht gerade darin, zwischen elaboriertem Paradies und barbarischer Hölle eine ungewisse Möglichkeit zu eröffnen. Wenn Andrej Tarkowskij betonte, Kunst gibt es nur, weil die Welt schlecht eingerichtet ist, meint er damit jene Schwierigkeit, das lebendige, gegenstrebige Durcheinander der Welt zu verstehen.

Malerei ist noch immer Mitteilung. Es ist also den Bildern aufgegeben, die Ungewissheit des ‹möglichen Etwas› aufzuzeigen, ihr Form und Gegenwart zu geben und damit für den Betrachter aushaltbar zu machen. Werner Liebmann zeigt dies mit äußerster Entschiedenheit, denn das «in Bildern gültig Formulierte kann nicht anders gesagt werden», ganz so, wie die Malerei zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Himmel und Hölle Gegenwart stiftet und das Leben zum Vorschein kommen lässt.